Gestern hatten Isabella vom fluequal-work iT!-Team und ich eine engagierte Diskussion:
was ist eigentlich Bildung? Welche Art Bildung ist für Flüchtlinge, die ja selbst hochmotiviert und lernbegierig sind, sozusagen die Zone nächster Entwicklung? Die Einschulung in bestimmte Jobs? Programmierkenntnisse? Österreichische Allgemeinbildung, wie sie seit neuestem ja gerne abgefragt wird? Oder sozusagen die gute alte Bildung, die sich über unsere
heutige (?) "Halbbildung" erhebt?
Liessman, österreichischer Wissenschaftler des Jahres 2006,
deutet letzteres an. Er verwechselt zwar nicht die exponentielle Zunahme von Wissen mit Bildung (
vgl. hier), aber der Bildungsbegriff, der sich in dem Interview verbirgt, ist dann doch
ein philosophischer Wissensbegriff, kein pädagogischer Kompetenzbegriff. Denn in der Betonung dessen, "was früher die 'Logik einer Sache' (Hegel)" war, vergisst er vollkommen den auch sehr antiquierten,
aber heute um so wichtigeren Begriff der Herzensbildung, und den zwar nicht neuen, aber im Bildungskanon völlig zurecht neu dazukommenden der ... jetzt fehlt der Begriff - aber nach
Geistes- und Herzensbildung wäre Bauchbildung vielleicht gar nicht so falsch.
Gemeint sind jedenfalls
Fähigkeiten des Projekt- und des Selbstmanagements (was so unterschiedlich gar nicht ist). D. h. sich nicht nur in institutionellen Ablaufmustern bilden zu lassen, sondern selbst aktiver Träger dieser Selbstbildung im Sinne biographischer Formung und des Umgangs mit emergenten Wandlungsprozessen zu werden. Kompetenzen dieser Art stehen bewusst und m. E. immer noch zu Recht
in unserem fluequal- "Bildungsprojekt" an erster Stelle weit vor konkreten IT-Kenntnissen (ja, die EU-Diktion dafür ist bezeichnenderweise, dass es nicht um Bildung geht, sondern um Qualifizierung).
Konkret: Die meisten Flüchtlinge sind sehr begierige und hochmotivierte LernerInnen. Aber -
es gibt keine Bildungsangebote für Flüchtlinge (warum auch, wenn mensch ihnen höchstens den Status einer Putzkraft oder eines Helfers auf dem Bauhof zubilligt). Und dann fallen zwei Sachen auf:
Erstens gibt es aber umgekehrt nur wenige Flüchtlinge, die in der Lage sind, in einer fremden bis feindlichen, jedenfalls unbekannten Umgebunq in einer fremden Sprache, praktisch ohne Mittel (40 Euro Taschengeld) und nur im Übergangs- und Wartestatus, vielleicht sogar in einer Gemeinschaftsunterkunft irgendwo auf dem Land,
zielorientiert selbst und allein Lernen anzugehen - die meisten warten ab angesichts der Rahmenbedingungen (mensch weiß als auch nie, ob zuviel Bildungs-Engagement nicht gefährlich ist, wenn das Aufnahmeland offenbar alles dazu tut, dass mensch eben nicht allzu sehr auffällt / rausgeht / sich Bildungsräume erobert).
Zweitens nehmen die Flüchtlinge in dieser Situation gerne
jedes sich bietende Angebot an, egal ob es aus Sicht von Bildungswegberatung zu Ihnen (Voraussetzungen, Fähigkeiten, Ziele) passt oder nicht.
Das heißt, meines Erachtens müssen wir - es betrifft alle - vor oder zusammen
mit der "Logik der Sache" auch die "Logik des Selbst" erkunden, und mit ihr, mit uns umgehen lernen. Und genau aus dieser Logik des Selbst heraus überhaupt
die für uns relevanten Wissensbestände festlegen. Bildung in unserer Zeit ist entschiedene Bildung, und dazu - das ist richtig - ist die "'Logik einer Sache' (Hegel)[...] sekundär geworden".
Nicht sekundär werden dürfen dazu aber die "inhaltlichen Diskussionen [...] um wirkliche Bildungsziele", deren Verlust Liessmann zu Recht beklagt. "Entschiedene Bildung" bedeutet, dass kein elitärer Diskurs mehr über die wahre Bildung geführt werden kann, denn Bildungsziele ergeben sich nicht mehr aus der "Logik der Sache", sondern aus der "Logik des Selbst".
Das birgt aber die Gefahr, dass diese personalisierte Bildung vollständig dem öffentlichen Diskurs entzogen wird. Denn die Logik des Selbst entfaltet sich nur an den Grenzen zu anderen, im Diskurs mit anderen (ein Pluspunkt für Bildungsberatung und Coaching - und auch für die Art Integrationsberatung, wie sie von unseren Kolleginnen im Into, der Integrationsberatungsstelle des Diakonie Flüchtlingsdiensts, praktiziert wird). Wenn der Diskurs um die Logik des Selbst nicht von jeder geführt wird, dann verkommt "lebenslanges Lernen" tatsächlich zu Unbildung, zum Nachrennen hinter modische Trends. Liessmanns Warnung daher zu Recht: "Disponibilität von anwendungsorientiertem Wissen ist gefragt." Nur durch eine Bildungsarbeit, die die Logik des Selbst integriert, kann dem entgegengewirkt werden.
Ansonsten verbleiben die Flüchtlinge (wie auch ÖsterreicherInnen, Unternehmen usw.) in der Annname, "jedes Zertifikat ist besser als keines". Der Dreischritt der Entwicklung noch einmal:
"ich lasse mir die Bildung geben, die daherkommt / ich nehme an, was angeboten wird" - "
ich gehe die Bildung an, die im Trend liegt und mir morgen einen Arbeitsplatz bescheren kann" - "
ich bilde mich in dem, was mir entspricht" (für die Wirtschaftsleute: denn das wird mir auch übermogen noch helfen, über die Runden zu kommen). Die Verdammung der zweiten Stufe darf nicht zur ersten Stufe zurück-, sondern sollte zur dritten weiterführen (eine ziemlich "normative Bildungsidee").
Soweit meine 5 cents zum Interview einmal schnell und ohne viel darüber nachzudenken formuliert ... mit der herzlichen Einladung zum Widerspruch.
(ein ps für die hartgesottenen Rechner - es scheint mir tatsächlich so, dass Menschen in "Stufe 2", die also Bildungsangebote nur wahrnehmen, weil sie ach so gute Arbeitsmarktaussichten verheißen, diese weniger umsetzen können. Sie lernen nur, nehmen nur auf, aber das ist zuwenig, um sich eine "Logik der Sache" inwendig zu erschließen.
Es lohnt sich also, einen Schritt weiterzugehen. Allerdings, dies sei eingestanden, kann der Schritt auch innerhalb eines Wissens-Aneignungsprozesses geschehen, zumal die Logik des Selbst eine Logik der Entfaltung ist.
Dies schließt den Kreis - denn unsere Diskussion ging genau darum: dienen wir Statistiken oder Menschen?)
fluequal - 11. Apr, 16:46