fachlich

Mittwoch, 11. April 2007

Bildung heute? Ein paar Gedanken zu Liessmanns Interview auf Telepolis

Gestern hatten Isabella vom fluequal-work iT!-Team und ich eine engagierte Diskussion: was ist eigentlich Bildung? Welche Art Bildung ist für Flüchtlinge, die ja selbst hochmotiviert und lernbegierig sind, sozusagen die Zone nächster Entwicklung? Die Einschulung in bestimmte Jobs? Programmierkenntnisse? Österreichische Allgemeinbildung, wie sie seit neuestem ja gerne abgefragt wird? Oder sozusagen die gute alte Bildung, die sich über unsere heutige (?) "Halbbildung" erhebt?

Liessman, österreichischer Wissenschaftler des Jahres 2006, deutet letzteres an. Er verwechselt zwar nicht die exponentielle Zunahme von Wissen mit Bildung (vgl. hier), aber der Bildungsbegriff, der sich in dem Interview verbirgt, ist dann doch ein philosophischer Wissensbegriff, kein pädagogischer Kompetenzbegriff. Denn in der Betonung dessen, "was früher die 'Logik einer Sache' (Hegel)" war, vergisst er vollkommen den auch sehr antiquierten, aber heute um so wichtigeren Begriff der Herzensbildung, und den zwar nicht neuen, aber im Bildungskanon völlig zurecht neu dazukommenden der ... jetzt fehlt der Begriff - aber nach Geistes- und Herzensbildung wäre Bauchbildung vielleicht gar nicht so falsch.

Gemeint sind jedenfalls Fähigkeiten des Projekt- und des Selbstmanagements (was so unterschiedlich gar nicht ist). D. h. sich nicht nur in institutionellen Ablaufmustern bilden zu lassen, sondern selbst aktiver Träger dieser Selbstbildung im Sinne biographischer Formung und des Umgangs mit emergenten Wandlungsprozessen zu werden. Kompetenzen dieser Art stehen bewusst und m. E. immer noch zu Recht in unserem fluequal- "Bildungsprojekt" an erster Stelle weit vor konkreten IT-Kenntnissen (ja, die EU-Diktion dafür ist bezeichnenderweise, dass es nicht um Bildung geht, sondern um Qualifizierung).

Konkret: Die meisten Flüchtlinge sind sehr begierige und hochmotivierte LernerInnen. Aber - es gibt keine Bildungsangebote für Flüchtlinge (warum auch, wenn mensch ihnen höchstens den Status einer Putzkraft oder eines Helfers auf dem Bauhof zubilligt). Und dann fallen zwei Sachen auf:

Erstens gibt es aber umgekehrt nur wenige Flüchtlinge, die in der Lage sind, in einer fremden bis feindlichen, jedenfalls unbekannten Umgebunq in einer fremden Sprache, praktisch ohne Mittel (40 Euro Taschengeld) und nur im Übergangs- und Wartestatus, vielleicht sogar in einer Gemeinschaftsunterkunft irgendwo auf dem Land, zielorientiert selbst und allein Lernen anzugehen - die meisten warten ab angesichts der Rahmenbedingungen (mensch weiß als auch nie, ob zuviel Bildungs-Engagement nicht gefährlich ist, wenn das Aufnahmeland offenbar alles dazu tut, dass mensch eben nicht allzu sehr auffällt / rausgeht / sich Bildungsräume erobert).

Zweitens nehmen die Flüchtlinge in dieser Situation gerne jedes sich bietende Angebot an, egal ob es aus Sicht von Bildungswegberatung zu Ihnen (Voraussetzungen, Fähigkeiten, Ziele) passt oder nicht.

Das heißt, meines Erachtens müssen wir - es betrifft alle - vor oder zusammen mit der "Logik der Sache" auch die "Logik des Selbst" erkunden, und mit ihr, mit uns umgehen lernen. Und genau aus dieser Logik des Selbst heraus überhaupt die für uns relevanten Wissensbestände festlegen. Bildung in unserer Zeit ist entschiedene Bildung, und dazu - das ist richtig - ist die "'Logik einer Sache' (Hegel)[...] sekundär geworden".

Nicht sekundär werden dürfen dazu aber die "inhaltlichen Diskussionen [...] um wirkliche Bildungsziele", deren Verlust Liessmann zu Recht beklagt. "Entschiedene Bildung" bedeutet, dass kein elitärer Diskurs mehr über die wahre Bildung geführt werden kann, denn Bildungsziele ergeben sich nicht mehr aus der "Logik der Sache", sondern aus der "Logik des Selbst". Das birgt aber die Gefahr, dass diese personalisierte Bildung vollständig dem öffentlichen Diskurs entzogen wird. Denn die Logik des Selbst entfaltet sich nur an den Grenzen zu anderen, im Diskurs mit anderen (ein Pluspunkt für Bildungsberatung und Coaching - und auch für die Art Integrationsberatung, wie sie von unseren Kolleginnen im Into, der Integrationsberatungsstelle des Diakonie Flüchtlingsdiensts, praktiziert wird). Wenn der Diskurs um die Logik des Selbst nicht von jeder geführt wird, dann verkommt "lebenslanges Lernen" tatsächlich zu Unbildung, zum Nachrennen hinter modische Trends. Liessmanns Warnung daher zu Recht: "Disponibilität von anwendungsorientiertem Wissen ist gefragt." Nur durch eine Bildungsarbeit, die die Logik des Selbst integriert, kann dem entgegengewirkt werden.

Ansonsten verbleiben die Flüchtlinge (wie auch ÖsterreicherInnen, Unternehmen usw.) in der Annname, "jedes Zertifikat ist besser als keines". Der Dreischritt der Entwicklung noch einmal: "ich lasse mir die Bildung geben, die daherkommt / ich nehme an, was angeboten wird" - "ich gehe die Bildung an, die im Trend liegt und mir morgen einen Arbeitsplatz bescheren kann" - "ich bilde mich in dem, was mir entspricht" (für die Wirtschaftsleute: denn das wird mir auch übermogen noch helfen, über die Runden zu kommen). Die Verdammung der zweiten Stufe darf nicht zur ersten Stufe zurück-, sondern sollte zur dritten weiterführen (eine ziemlich "normative Bildungsidee").

Soweit meine 5 cents zum Interview einmal schnell und ohne viel darüber nachzudenken formuliert ... mit der herzlichen Einladung zum Widerspruch.

(ein ps für die hartgesottenen Rechner - es scheint mir tatsächlich so, dass Menschen in "Stufe 2", die also Bildungsangebote nur wahrnehmen, weil sie ach so gute Arbeitsmarktaussichten verheißen, diese weniger umsetzen können. Sie lernen nur, nehmen nur auf, aber das ist zuwenig, um sich eine "Logik der Sache" inwendig zu erschließen. Es lohnt sich also, einen Schritt weiterzugehen. Allerdings, dies sei eingestanden, kann der Schritt auch innerhalb eines Wissens-Aneignungsprozesses geschehen, zumal die Logik des Selbst eine Logik der Entfaltung ist.
Dies schließt den Kreis - denn unsere Diskussion ging genau darum: dienen wir Statistiken oder Menschen?)

Flüchtlingsarbeit: how do you switch gears from designing for to designing with?

Hannes Treichl schreibt zu Crowdsourcing und Design ... denkt er. "Ein Lobgesang [...] Kunden an der Gestaltung ihres Lebens aktiv teilhaben zu lassen". Ein alter Grundsatz der sozialen Berufe. Und fasst die wichtigsten Zitate aus einem Artikel im Blog von BusinessWeek Editor Bruce Nussbaum folgendermaßen zusammen:
  • "People want to participate in the design of their lives. They insist on being part of the conversation about their lives.
  • People want to be in the design sandbox so you have to figure out how to get them in and do design with them. This is a huge challenge.
  • The broad new paradigm for design—the paradigm you will all work within for the rest of your lives—is sustainability.
  • We need to live the lives we design.
  • [...]
  • It’s not about the finished story but about the ongoing story. It’s the conversation. And since most conversations don’t have a conclusion, they are ongoing. We live a life in beta.
  • So one Big Design Management Challenge is how do you switch gears from designing for to designing with?"
Ja, ja, ja! Aber wenn ich das regelmäßig im Kreise der Flüchtlingsarbeit verkünde, unser Paradigmenwechsel von "designing for" zu "designing with", dann komme ich mir vor wie der Rufer in der Wüste. Nun, we live a life in beta. Und es lohnt, den Artikel von Nussbaum zu lesen unter der Perspektive des eigenen Berufsstandes (ersetze "Designer" in "Designers suck because they are arrogant" usw. usf. durch eigenen Beruf ;-)

Mittwoch, 26. April 2006

Frauen aus allen Ländern in Innsbruck

Sozialarbeits- und Sozialmanagements-Studentinnen des Managements Centers Innsbruck, einer Fachhochschule, haben zusammen mit der Initiative "Frauen aus allen Ländern" Innsbruck ein kleines Forschungsprojekt gestartet. "Unser Ziel ist es, herauszufinden wo sich Migrantinnen in Innsbruck vorwiegend aufhalten und Mittel und Wege zu finden sie zu kontaktieren." schreiben sie in ihrem Forschungsblog.

Etwas irritierend ist für mich aber, dass Kerstin, Nicole, Stefanie, Regina & Steffi erst narrative Interviews durchführen wollen , um dann doch wieder fast durchwegs davon abzukommen... Schade eigentlich. Gratuliere trotzdem zu den 4 Interviews.

Nicht unumstritten ist die Frage, ob und wann sich narrative Interviews in der Nicht-Muttersprache führen lassen. Das Ob ist eigentlich längst entschieden: Nicht nur narrativ, sondern auch noch autobiographisch-narrativ ist das berühmte Hülya-Interview, und ich kann nicht nachdrücklich genug auf die September 2003 Ausgabe der FQS mit all ihren Themenschwerpunktartikeln hinweisen...

(ps: kleiner Linktipp: http://www.integrationsportal.at/ )
(pps: Probleme macht mir deren Layout übrigens im Konquerer, da ich mein eigenes bisher im IE u.a. noch nicht -sic!- kontrolliert habe, bitte melden, wenn es irgendwo Probleme gibt. Merci!)

Rassismus im Evangelischen Hilfswerk?

Rassismus wirft die linke Indymedia dem Ev. Hilfswerk vor. Indymedia ist allerdings bundesdeutsch - und fordert in ihrem aktuell letzten Artikel zusammen mit Pro Asyl u.a. eine "Bleiberechtsregelung jetzt!" für 200.000 Flüchtlinge in Deutschland mit dem Aufenthaltsstatus der Duldung. Es geht also um das Evangelische Hilfswerk in München (nicht um unseres in Österreich!), dass sich in der Wohnungslosenhilfe engagiert. Offensichtlich waren die MitarbeiterInnen gar nicht begeistert, mit ihren Angeboten von "organisierte[n] Bettlerbanden aus dem Ausland" (was immer das jetzt ist) ausgenutzt zu werden - und hofften auf städtische Hilfe, und dazu wiederum auf öffentliche Aufmerksamkeit für dieses "Problem" (. Entsprechend ein Artikel im Münchner Diakonie Report (April 2006 S. 12), der dann von "Gundula Hiergeblieben" als rassistisch bezeichnet wurde. In den "Ergänzungen" widersprechen dem die "Rote Zora" und andere...

In Kürze noch ein paar Beobachtungen dazu:
  1. Gerade Arbeit im sozialen Bereich hat immer wieder die Aufgabe, Probleme für Öffentlichkeiten zu schaffen, die in Diskursarenen bearbeitet werden können (von geschlagenen Ehefrauen über das neue Fremdenpaket in Österreich bis hin zu Trunkenheit am Steuer). Dies ist bekanntermaßen ein durchaus zweischneidiges Schwert. Der erwähnte Artikel ist ein Beispiel dazu.
  2. Diese Konstruktion eines Problems erfolgt auch aus einem so verstandenen Mandat für ein Problem und ggf. die davon Betroffenen. Diese anwaltliche Funktion beinhaltet natürlich einerseits die Fallenkonstellation, in die Probleme der Betroffenen so verstrickt zu werden und diese so zu vertreten, dass sich z. B. (ggf. latente) Verlaufskurvenproblematiken der Betroffenen noch verstärken können (im beschriebenen Fall z. B. durch die Hilfe für "organisierte Banden"), andererseits besteht auch die Gefahr, nach erfolgreicher Problematisierung das öffentliche (gesellschaftliche/staatliche) Mandat für eine "Lösung" des Problems dahingehend zu erhalten, dass dieses ebenfalls eine nachhaltige Bearbeitung der Problematiken verunmöglicht, indem es z.B. die Problematiken verindividualisisiert und die Emergenz kollektiver Lösungen erübrigt.
  3. Bei der Besetzung öffentlicher Probleme geht es auch immer Ressourcen- (und damit: Macht-)Fragen - etwa um die Verteilung der (notwendig immer) knappen Budgets für durch eine Öffentlichkeit finanzierte Bearbeitung öffentlich wahrgenommener sozialer Probleme. Insofern erfolgt die Konstruktion öffentlicher Probleme auch im Hinblick auf eine "Konkurrenz" sozialer Probleme (um Aufmerksamkeit -hier als eine Art soziales Kapital beschreibbar- und Ressourcen) und der davon Betroffenen. Für von Unterschichtung Betroffene ist diese Konkurrenz auch Bestandteil der Konstruktion von Selbstwert in ihrer Identität (hier sei nur auf Rassismus unter ZuwandererInnen hingewiesen - wobei dieser jedoch auch nur eine selbstwertschützende Replikation der Attributionen -und ihrer Ambivalenzen- der dominanten Kultur(en) zu sein scheint)
  4. Da ich bereits das Wort Rassismus verwendete, sei angemerkt, dass es sich hier meist n meiner Terminologie eigentlich nicht um Rassismus handeln würde - es scheint mir sinnvoll, auch die Kategorie "Rassismus" genauer aufzuschlüsseln. Es erscheint mir nicht abwegig, Stereotype, die explizit auf Religion oder Nationalität begründet sind, nicht immer unter "Rassismus" zu fassen, sondern diese als eine Gemengelage von (moralisch / wertend hierarchisierten) Stereotypen zu analysieren. Damit kämen wir wohl auch unserem eigenen "Alltagsrassismus" stärker auf die Spur.

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